Raymond Graeme Dunphy, Daz was ein michel wunder: The Presentation of Old Testament Material in Jans Enikel's Weltchronik, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 650, Kümmerle (Göppingen) 1998.
Zusammenfassung in deutscher Sprache
Die um 1272 entstandene Weltchronik des Wiener Bürgers Jans Enikel bietet ein bedeutendes Zeitzeugnis, von großem Belang in Bezug auf ihren literarischen Einfluß sowie auf ihre Stellung in der Entwicklung der volkssprachlichen Weltchronikgattung. Sie ist jedoch von der wissenschaftlichen Forschung, zum Teil wegen der im 19. Jh. vom Herausgeber Philipp Strauch dargelegten Ansicht, sie sei im Hinblick auf Stil und Inhalt von mangelnder Qualität, schwer vernachlässigt worden. Demzufolge weisen die meisten Untersuchungen aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts einen sprachhistorischen Schwerpunkt auf. In den letzten zwei Jahrzehnten beobachten wir dagegen ein gesteigertes Interesse an diesem Werk, das wir wohl im Zusammenhang mit dem allgemeinen Aufschwung der Chronikforschung betrachten müssen, und eine neue Wertschätzung des kreativen Erzählers Enikel.
In der vorliegenden Arbeit versuche ich, durch eine vom literarischen Standpunkt ausgehende Untersuchung des größtenteils unerforschten alttestamentlichen Stoffes der ersten Chronikhälfte diese positive Entwicklung voranzutreiben. Nach den einführenden Kapiteln, die den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse der Werke Enikels umreißen und die Geschichte der Form kurz skizzieren, unternehme ich eine detaillierte Analyse des Textes. Jede Perikope wird - auch im Hinblick auf die Miniaturen in den illustrierten Handschriften - beschrieben, die auffälligen Motive werden isoliert und - wenn möglich - wird deren Vorgeschichte anhand von anderen mittelalterlichen Texten verfolgt. Auf diese Weise läßt sich die Enikels Schriften zugrundeliegende schöpferische Arbeitsweise rekonstruieren und deren Programm bestimmen, wodurch es uns ermöglicht wird, die Stärken und Schwächen der Erzählung von ihren Voraussetzungen her zu beurteilen. Die drei abschließenden Kapitel fassen die Ergebnisse zusammen und versuchen sich an einer Beschreibung von Enikels Methodologie, seinen Interessen und den Beweggründen seines Schreibens. Die Arbeit bietet auch zwei Ansätze zur komplexen Frage der Überlieferung der Enikelschen Texte, einerseits ein Handschriftenverzeichnis, das die kodikologischen Informationen zum ersten Mal seit einem Jahrhundert in einer auf Enikel bezogenen Form aktualisiert, und andererseits eine Hypothese bezüglich des Sonderstoffes im Leipziger Manuskript (Hs 9). Postuliert wird, daß diese Handschrift eine zweite Fassung aus Enikels Werkstatt darstellt, wobei die Zusätze als dessen eigene Schriften und nicht als spätere Einschübe im Laufe eines Kopierverfahrens anzusehen sind.
Enikel hat nicht, wie Strauch behauptet, von Honorius Augustodunensis unvorsichtig abgeschrieben und in weit ausholendem und unbeholfenem Stil ergänzt. Ich kann den Beweis führen, daß er Honorius zwar als gelegentliche Quelle für Personennamen und numerische Daten benutzt, daß sein eigentlicher Erzählstoff jedoch in keinem Fall auf dieser Vorlage basiert. Vielmehr entpuppt sich Enikel als Kompilator von Motiven unterschiedlichsten Ursprungs, der selbst in der säkularen Literatur äußerst belesen war und dank seiner Kontakte zur Geistlichkeit auch zu theologischem Material Zugang hatte. Er überrascht mit der Integration von sonst nur mündlich tradierten Erzählelementen in die biblische Geschichte. Ein gutes Beispiel für die Konstruktion einer Erzählung aus diversen Bestandteilen wäre seine vita Noe, in der die Berichte von der Sintflut und von der Entdeckung des Weins höchst originelle Varianten zu den altbekannten Bibelgeschichten bieten. Mit großer Phantasie setzt er neue Akzente bei der Charakterisierung der biblischen Protagonisten oder beim Verlauf eines komplizierten Plots. Stellt man die Frage, was Sara dazu bewegte, ihren Gatten zum Beischlaf mit ihrer Magd aufzufordern, warum Pharao seinen Truchseß begnadigte oder wie es dazu kam, daß der als Ägypter erzogene Moses seiner jüdischen Identität bewußt wurde, so weiß Enikel Neues und Amüsantes zu berichten. Obwohl oft frei erfunden, scheint dies mitunter sogar überzeugender als die orthodoxen Fassungen. Viele der inhaltlichen Innovationen in der Chronik lassen sich auf zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Stichwörter bringen: Sensationalisierung und Rationalisierung. Die Vorliebe für das Außergewöhnliche, die Steigerung dramatischer Höhepunkte, die Betonung des Emotionalen und die Hervorhebung des unterschwellig Erotischen bieten Indizien für Enikels Neigung zum Sensationellen. Rationalisierung beobachten wir immer dort, wo eine Handlung schwer nachvollziehbar, unnötig kompliziert oder dem mittelalterlichen Leser schlicht fremdartig erscheint. Um diese Effekte zu erzielen, bedient sich Enikel einer Reihe literarischer Techniken: vornehmlich des Aufbaus von Dialogen, der kausalen Verknüpfung eigentlich separater Ereignisse, die die Verbindung von Ursache und Wirkung herstellt, und der thematischen Organisation der Erzählelemente, die eine liberale Einstellung zu Reihenfolge und Chronologie voraussetzt. Seine erstaunlichste Leistung liegt wohl in der konsequenten Art, in der er seine Stoffe immer wieder effektiv und mit unbezähmbarem Humor neu gestaltet.
Wenn es auch zweifellos zutrifft, daß Enikel sich offensichtlich an seiner Erzählkunst erfreut, und mit der Absicht schreibt, seine Leser mit der unerwarteten Mischung aus Altem und Neuem zu unterhalten, so steht jedoch auch fest, daß er ein nachvollziehbares Programm unerbittlich durchführt. Als erster Laie aus bürgerlichen Kreisen eine Weltchronik schreibend, stellt er die Geschichte aus der Sicht seiner Gruppe dar. Hier handelt es sich nicht nur um den ausgeprägten Geschäftssinn, der ihm immer wieder zugeschrieben wird. An zahllosen Stellen spüren wir das Ambiente des städtischen Milieus. Die Nebeneinanderstellung von Momenten der höfischen und nicht-höfischen literarischen Kultur, so wie auch eine gewisse Skepsis gegenüber den Ansprüchen des Adels, die jedoch nicht zu einer Infragestellung der ganzen sozialen Ordnung führt, ist kennzeichnend für die Einstellung der Wiener Ritterbürger überhaupt. Am wichtigsten scheint aber, daß der bürgerliche Leser sich in diesen Erzählungen wiederfinden kann. In Abraham und Moses sieht er seinesgleichen. Somit gewinnt die neu entstandene städtische Oberschicht eine Vorgeschichte. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, daß sich Enikel als Historiker versteht, auch wenn er durchaus als fiktiver Verfasser gelten kann. Seine Konzeption der Historiographie basiert nicht auf dem Versuch, eine wirkliche Vergangenheit objektiv wiederzugeben, sondern auf der Notwendigkeit, die Ansprüche der bürgerlichen Gegenwart geschichtlich zu untermauern.